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Fabian Hollenstein | Zwangsstörung (OCD) | Schlossmauer Wartensee

Über mich - Wer ich bin und warum ich Zwänge verstehe

Herzlich Willkommen in meiner aufdringlichen und zwanghaften Welt! ;-) Mein Name ist Fabian Hollenstein und ich bin zertifizierter Coach, Angst-Experte, Autor, Podcaster und Initiator von Zweifelsfrei. Mit meiner Coachingpraxis unterstütze und begleite ich Menschen mit einer Zwangsstörung auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben.

Zwangsstörungen kenne ich nicht nur vom Hörensagen oder aus Büchern. Ich bin selbst ein Betroffener. Nach einem Leidensweg von über 20 Jahren habe ich 2015 durch eine Selbstdiagnose endlich herausgefunden, was mit mir nicht stimmte. Danach gab es kein Halten mehr für mich. Nachdem ich in jenem Sommer noch suizidal war, flog ich bereits im Herbst für 7 Wochen nach Los Angeles, um dort eine ambulante Intensivtherapie gegen meine Zwangsstörung zu absolvieren. In den USA wird das Krankheitsbild übrigens als „OCD“ bezeichnet, was für „Obsessive-Compulsive Disorder“ steht. 2016 fühlte ich mich endlich frei, vermutlich das erste Mal überhaupt seit meiner Kindheit, und seit 2018 verzichte ich gänzlich auf Medikamente.

Zitat: Schiefertafel mit Quotes

Deine Geschichte anzuerkennen und dich dafür zu lieben, ist das Mutigste, das du je tun wirst. (Brené Brown)

Mein eigener Weg ist massgeblich dafür verantwortlich, warum ich heute mit Zweifelsfrei am Start bin. Zwangsstörungen werden häufig verkannt, von Fachpersonen wohlgemerkt. Und selbst wenn eine Zwangsstörung korrekt diagnostiziert wird, ist das noch lange keine Garantie dafür, eine adäquate Therapie zu erhalten. Das wäre eine, die nachweislich funktioniert und nachhaltig ist. Im Falle einer Zwangsstörung also eine kognitive Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt auf Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM). Genau diese Umstände sorgen dafür, dass Betroffene deutlich länger leiden müssen, als es tatsächlich nötig wäre. Ein Zustand, der sowohl bedenklich als auch tragisch, und auf jeden Fall unhaltbar ist.

Du glaubst mir nicht? Nun, ich bin der lebende Beweis dafür, und ich kenne viele Betroffene, denen es leider ähnlich ergangen ist. Genau deshalb und natürlich um dir Mut zu machen, erzähle ich meine Geschichte. Sie zeigt sehr schön, dass es trotz auswegloser Hoffnungslosigkeit auch wieder besser werden kann. Dabei nehme ich selten ein Blatt vor den Mund und präsentiere meine Geschichte schonungslos offen, authentisch und ungeschminkt. Die einen mögen das mutig finden, die anderen naiv. Nun denn, ich finde, es ist zwingend nötig, damit sich etwas ändern kann. Und, es muss sich dringend etwas ändern.

Triggerwarnung

Mein Leben mit einer Zwangsstörung

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Also, sitzt du bequem und hast Popcorn und eine Coke bereitstehen? Wunderbar, dann lehne dich doch einfach zurück und geniesse die Show. ;-)

Im Herbst 2023 wurde meine Geschichte verfilmt und im Rahmen des Formats "Sichtbar - Starke Geschichten von starken Menschen" auf blick.ch geteilt. Mehr dazu auch auf Mein Video.

Zitat: Schiefertafel mit Quotes

Zitat des Initiators: Ich war ganz oben, aber nur, um von dort herunterzuspringen. Denn eigentlich war ich ganz unten, in der Hölle. Das war 2015, und heute bin ich hier.

Am Anfang war da nichts, und dann waren da so Gedanken, die mich nicht mehr losliessen. Ich musste ungefähr 13 - 14 Jahre alt gewesen sein. Anfänglich versuchte ich, die Gedanken zu unterdrücken. Doch sie kamen immer wieder zurück, und zu jeder Party brachten sie noch ein paar renitente Kollegen mit. Diese Gedanken zweifelten meine sexuelle Orientierung an, an die ich bislang effektiv noch nie einen ernsthaften Gedanken verschwendet hatte. Warum auch, es war ja klar, dass ich heterosexuell war. Oder doch nicht? Bääääähm, und schon war ich mitten drin im Spiel um die absolute Gewissheit, das die Zwangsstörung so unheimlich gerne spielt.

Es ging also los mit HOCD. Das sind Zwangsgedanken, die die eigene sexuelle Orientierung anzweifeln. Ich hatte ständig Angst, ich könnte homosexuell sein. In meinem Kopf drängten sich dann Gedanken auf, wie z.B.: "Schau mal dahinten, der Junge ist doch ziemlich süss. Bestimmt wäre es schön, ihn zu küssen."

Als ich mit 16 Jahren meine erste ernsthafte Beziehung hatte, mit einem weiblichen Wesen wohlgemerkt ;-), gesellte sich dann ROCD dazu. Das sind Zwangsgedanken, die die Beziehung, insbesondere die Qualität und die Intensität, zum eigenen Partner anzweifeln. Das klang dann z.B. wie folgt: "Dieser Kuss war jetzt nicht so berauschend, wäre sie die richtige, würde das bestimmt nicht passieren." Das perfide dabei war, dass HOCD und ROCD sich gegenseitig anstachelten. Das hörte sich dann in meinem Kopf ungefähr so an: "Wenn dir das Küssen mit deiner Freundin nicht mehr gefällt, dann kann das nur bedeuten, dass du tatsächlich homosexuell bist."

Irgendwann lernte ich dann meine heutige Frau kennen und als ich mich trotz massivsten Angriffen von HOCD und ROCD weigerte, sie zu verlassen, tauchte ein weiterer Störenfried auf. Herzlich Willkommen Mr. "Harm OCD". Das verlagerte das Spiel auf eine ganz neue und deutlich bedrohlichere Ebene. Plötzlich quälten mich Gedanken, wie z.B. dieser: "Wie wär's denn, wenn du ihr einfach die Kehle aufschlitzen würdest?" "Harm OCD" sind also gewaltbehaftete Zwangsgedanken, die die eigene Zurechnungsfähigkeit anzweifeln. Sie gaben sich aber nicht nur mit meiner Frau zufrieden, sondern schwappten kurz darauf auf meine Mutter über und rund 12 Jahre später auch auf meinen neugeborenen Sohn. Genau dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie hinterhältig Zwangsstörungen operieren, sie greifen dich immer dort an, wo es am meisten wehtut.

All diese Gedanken, egal ob HOCD, ROCD oder "Harm OCD" erschütterten mich zu tiefst, weil sie meine innersten Kernwerte attackierten. Sie lösten immer enormen Stress aus, den ich hauptsächlich als Hitzewallungen auf meiner Stirn wahrnahm. Ich fühlte mich ständig bedroht und hatte fortwährend Angst, etwas zu tun, was ich nicht tun wollte. Die Gedanken waren oftmals so intensiv, dass ich befürchtete, den Verstand zu verlieren. Ein wahrlich unangenehmes Gefühl, das man jemandem, der das nicht selbst erlebt hat, kaum beschreiben kann.

Mann mit Lippen-Shirt unter Plamen in Los Angeles

Exposition gegen HOCD: Ein Tag als "Homosexueller" in Los Angeles. Wow, was für eine lehrreiche Erfahrung. Das Shirt aus der Frauenabteilung von "Forever 21" sass wie angegossen. ;-)

2003 hatte ich meinen ersten Nervenzusammenbruch. Bis 2015 sollten weitere 5 - 6 hinzukommen. Ich schätze, irgendwann hört man auf zu zählen. 2005 war ich das erste Mal bei einem Psychiater, allerdings wegen einem ganz anderen Anliegen, das relativ schnell erledigt werden konnte. Dabei waren aber auch meine Gedanken über meine Frau, über Männer und meine Hitzewallungen ein Thema. Seine Antwort werde ich nie mehr vergessen: "Sexualität ist halt ein heisses Thema, vor allem, wenn sie verdrängt wird." Danke und Tschüss! ;-) Rund 13 Jahre später wurde mir genau diese Person als Spezialist für Zwangsstörungen vorgeschlagen. Aber klar doch, und ich kenne mich mit Raumfahrttechnik aus. ;-)

Die Jahre vergingen, mehr schlecht als recht, bis mir 2010 ein weiterer Tiefpunkt den Boden unter den Füssen wegzog. Meine Frau befand sich im Ausland und mein "Harm OCD" lief zu Hause Amok. Es wurde so schlimm, dass ich weder arbeiten noch schlafen konnte. Meine Frau musste vorzeitig nach Hause kommen und ich landete auf der Krisenintervention. Jetzt war ich endlich in professionellen Händen. Dachte ich zumindest. Da ich die Nacht zuvor ohnehin aus dem Fenster springen wollte, hatte ich nichts mehr zu verlieren. Ich breitete das ganze mentale Blutbad auf dem Tisch aus. Obwohl es für einen "Fachmann" eigentlich offensichtlich gewesen wäre, reichte es nur für die Diagnose "Burnout" und einen Koffer voller Psychopharmaka. 80+ Arbeitsstunden pro Woche und das über Jahre schien überzeugender zu sein, als blutrünstige Mordgedanken im Stile von Hannibal Lecter. Absolut einleuchtend. ;-)

Das war an einem Freitag, am Montag war ich bereits wieder im Büro. Schliesslich musste die Show weitergehen. Ich hatte die naive Vorstellung, die Tabletten würden mich heilen. Anfänglich verbesserten sich die Symptome auch tatsächlich, aber irgendwann wurden sie wieder stärker. Die Dosis wurde erhöht, die Medikamente wurden gewechselt oder ein weiteres wurde hinzugenommen. Einen Absetzversuch musste ich nach rund 2 Monaten abbrechen. 2015 nahm ich 3 Psychopharmaka gleichzeitig. Die ganze Zeit über, also von 2010 - 2015 befand ich mich in "Therapie". Eine weitere Diagnose kam hinzu, "Generalisierte Angststörung", was eigentlich gut gewesen wäre, denn bei Ängsten setzt man ebenfalls auf Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM). Doch es blieb bei einer Gesprächs- / Medikamententherapie, und das, obwohl die behandelnde Person eine Vertreterin der kognitiven Verhaltenstherapie war.

Mann kuschelt mit Baby

Exposition gegen POCD: Kuscheln mit einem nackten Baby (mein Sohn) in unserem Appartement in Venice Beach. Für viele Eltern eine Freude, für mich damals das blanke Entsetzen.

Als mein Sohn im Mai 2015 geboren wurde, wollte ich meine Frau unterstützen und nachts für die beiden da sein. Das bedingte, das ich mein schlafförderndes Antidepressivum absetzen musste. Also liess ich es von heute auf morgen einfach weg. Das ging relativ gut, was mich dazu verleitete, nach rund 14 Tagen auch die anderen beiden Medikamente rauszunehmen. Also liess ich sie gleichermassen weg. Das hing sehr stark damit zusammen, dass ich 2014 anfing, meinen Lebensstil komplett umzustellen. Das hiess, gesunde Ernährung, viel Bewegung und kaum noch Alkohol, sowie zahlreiche weitere Interventionen. Die Medis waren mir dabei immer ein Dorn im Auge. Obwohl ich nicht wirklich stabil war, ging ich davon aus, dass mein neuer Lebensstil es richten würde. So kam es also, dass ich innerhalb von 2 Wochen 3 Psychopharmaka von 0 auf 100 absetzte.

Das was danach kam, war ein Höllenritt, der seinesgleichen sucht. Eigentlich war ich der festen Überzeugung, bereits 2010 in der Hölle gewesen zu sein. Aber wenn überhaupt war das höchstens die Pforte, die ich damals streifte.

Meine 3 Freunde HOCD, ROCD und "Harm OCD" kriegten in dieser Phase einen weiteren Mitspieler, der das ganze tatsächlich noch zu steigern vermochte. POCD kam angetanzt. Das sind Zwangsgedanken, die sich der Pädophilie verschrieben haben. Da tauchten dann so Dinge auf, wie beispielsweise: Homosexuell bist du ja eh schon, wie wär's also, wenn du ein bisschen mit dem Penis von deinem Sohn spielen würdest?

Das war zu viel. Ich konnte nicht mehr und gab auf. Der Leidensdruck war zu gross und ich schwor mir hoch und heilig, bevor ich meine Frau abstechen, meinen Sohn aus dem Fenster werfen oder ihn missbrauchen würde, würde ich mir selbst das Leben nehmen. So kam es also, dass ich in die Suizidalität abrutschte. Nicht zuletzt auch durch das horrende Absetzsyndrom, das mich heimsuchte. Von nun an beschäftige ich mich viel damit, wie, wo und wann es stattfinden soll und, was ich vorher noch alles vorzubereiten hätte.

Insgesamt kann ich mich an 5 - 6 Sequenzen erinnern, in denen es ziemlich konkret wurde. Mehrmals stand ich vor dem Abgrund, buchstäblich. Doch ich zögerte, denn sterben wollte ich eigentlich gar nicht. Ich wollte nur nicht mehr leiden und vor allem, Schlimmeres verhindern. Also zog ich es durch und lief bei meinem letzten Versuch tatsächlich an. Der allerletzte Schritt blieb mir allerdings verwehrt. 0.5 Sekunde vor dem "Point of no Return" rettete mir paradoxerweise genau das das Leben, was es mich beinahe gekostet hätte, die Angst.

Dargebotene Hand (Tel. 143)

Selbstmord ist keine Lösung. Falls du ernsthaft darüber nachdenkst, dir das Leben zu nehmen, hol dir bitte jetzt sofort professionelle Hilfe. Verwehre dir selbst nicht die Erfahrung, dass es auch wieder besser werden kann.

Da wusste ich, dass ich keine Chance hatte. Gegen die Angst war ich machtlos. Zu viele Schlachten hatte ich bereits gegen sie verloren. Dieser Umstand zwang mich, das Aufgeben aufzugeben. Genau während meiner suizidalen Phase kam es zu einem Therapeutenwechsel. Dieser versuchte proaktiv, mir wieder ein Antidepressivum unterzujubeln. Nach meinem missglückten Suizidversuch, liess ich mich breitwillig darauf ein.

Dem neuen Psychiater habe ich alles erzählt. Jeden einzelnen Gedanken, egal ob HOCD, ROCD, "Harm OCD" oder POCD. Die ganze Palette lag grosszügig ausgebreitet auf dem Tisch. Das bescherte mir auch diverse weitere Diagnose, die da waren: Schwere Depression, Trauma und Psychose. Ebenso wurden mir Neuroleptika angeboten, die ich zum Glück vehement ablehnte.

Ein kurzes Resümee an dieser Stelle. Bislang kamen zusammen:

 

  • 21 Jahre Leidensweg

  • 7 Nervenzusammenbrüche

  • 1 Suizidalität

  • 5 Jahre Therapie

  • 3 Psychiater

  • 6 Diagnosen

  • 4 Antidepressiva

  • 1 Antikonvulsiva

  • 1 Benzodiazepin

  • 1 Hypnotikum

 

Und hey, immer noch keine Diagnose "Zwangsstörung". Aber immerhin konnte ich meinen Medikamentenkonsum von 3 auf 1 reduzieren. ;-)

Exposition gegen ROCD: Diesen Song hörte ich mir in Los Angeles bestimmt über 50x an. Eigentlich ein schöner Song, der darüber hinaus mein Problem perfekt adressierte.

Nach dem Therapeutenwechsel fand ich mich in einer tiefenpsychologischen Psychotherapie wieder. Der Ansatz war simpel, denn ich sollte einfach nur immer wieder das erzählen, was mich belastete. Nichts leichter als das, mein Leben war schliesslich voll von traumatischen Erfahrungen. So kam es, dass ich mein Leben bestimmt 3x rauf und runter ging. Mit dem Ergebnis, dass mich nichts davon mehr belastete, was es aber eigentlich auch vorher schon nicht tat, dass es mir wieder deutlich besser ging, was in erster Linie dem Antidepressivum geschuldet war, und dass ich immer noch verstörende Gedanken hatte. Das Antidepressivum sorgte aber mindestens dafür, dass sie nicht mehr so klebrig waren.

Ich wusste, mit mir stimmte etwas nicht. Ich wusste nur noch nicht was, war aber so was von motiviert, es endlich herauszufinden. Für mich, für meine Frau und für meinen Sohn. Irgendwie war ich es uns allen schuldig. So kam es dann, dass ich eine Website über psychische Krankheiten öffnete und anfing, von A - Z alles durchzulesen. Dummerweise fing Zwangsstörung mit Z an, glücklicherweise hielt ich so lange durch. ;-) Dasselbe tat ich übrigens bereits einmal rund 3 Monate zuvor, während der dunkelste Phase meines Lebens. Damals blieb ich bei Borderline und Psychose hängen. Uff, da nehme ich doch lieber etwas anderes...

Bestimmt ahnst du es bereits, als ich bei Z angelangt war, fühlte ich mich total elektrisiert, fast so als ob mich der Blitz getroffen hätte. Mein Problem erhielt endlich einen Namen. Es wurde auf "Zwangsstörung" getauft. Ich war komplett aus dem Häuschen und konnte es irgendwie noch gar nicht glauben. Es fühlte sich so surreal an. Weder war ich also pervers, noch pädophil, noch homosexuell, noch beziehungsunfähig, noch abgrundtief böse, sondern einfach nur krank. Anfänglich dachte ich wirklich, dass das Wissen darüber, was ich habe, dafür sorgen würde, dass das Problem von alleine verschwindet. Ganz so einfach war es dann doch nicht, denn die Zweifel blieben mir nicht nur treu, sie fanden sogar eine neue Spielwiese. Das hörte sich dann ungefähr so an: "Du wirst der erste sein, der trotz dieser Diagnose seine Familie abschlachten wird."

Die nächsten Tage verbrachte ich viel mit Recherche. Ich merkte relativ schnell, dass im deutschsprachigen Raum nichts zu holen war. Als ich deshalb anfing, auf Englisch zu googeln, war ich echt geflasht, was ich alles fand. Es wurde kein Blatt vor den Mund genommen. Die ganzen Themengebiete mit all ihren finsteren und teilweise bizarren Gedanken wurden hemmungslos offengelegt. Ziemlich am Anfang landete ich dann bereits auf der Website von OCDLA, einer Klink in Los Angeles, die sich auf Zwangsstörungen spezialisiert hatte. Auf dieser Website fühlte ich mich zum allerersten Mal im Leben so richtig verstanden. Es war so, als ob die in ihren Blog-Beiträgen über mich geschrieben hätten. Fast unheimlich.

Mann mit Baby auf einem Pier in Venice Beach

Exposition gegen Harm OCD: "Werde ich meinen Sohn ins Meer werfen?" war die Ungewissheit, die es auf dem "Venice Fishing Pier" 7 Wochen lang jeden Tag auszuhalten galt.

Rückblickend denke ich, dass genau diese zurückhaltende, unvollständige und irreführende Art, im deutschsprachigen Raum über Zwangsstörungen zu informieren, dafür gesorgt hat, dass ich nicht schon viel eher darauf stiess. Obwohl ich ganz offensichtlich an einer Zwangsstörung litt, tat ich folgende Dinge, die man in den Beschreibungen immer wieder antraf, nicht:

 

  • ​​Waschen

  • Kontrollieren

  • Wiederholen

  • Ordnen

  • Zählen

  • Neutralisieren

  • Zwanghaftes Nachdenken

  • Ritualisiertes Handeln

 

Dafür hatte ich ständig Angst, ich könnte homosexuell, in der falschen Beziehung, ein Serienkiller oder pädophil sein. Und ja, auch ich hatte letztendlich Zwangshandlungen, aber die liefen alle ausschliesslich in meinem Kopf ab und ich hätte sie nicht als Rituale im klassischen Sinne bezeichnet.

Meine neusten Erkenntnisse teilte ich natürlich umgehend mit meinem Psychiater. Das waren die Diagnose und das Mittel erster Wahl für die Behandlung. Er meinte dann, dass tiefenpsychologische Psychotherapie auch für Zwangsstörungen wirksam sei. Aber sicher doch. ;-) Bestimmt setzte ich eine Therapie, die nachweislich nicht funktionierte, denn ich hatte die Zwangsgedanken ja immer noch, fort, bei jemandem, der noch nicht einmal die richtige Diagnose stellen konnte. Danke und Tschüss. ;-)

Genauso spärlich, wie es um die Informationen stand, war leider auch das Therapieangebot in CH/DE/AT. Entweder kein nachweisliches Verständnis für das Krankheitsbild oder eine Warteliste von 12 Monaten. Und meine Erfahrungen aus der Selbsthilfe zeigen mir, dass sich in den letzten 9 Jahren leider nicht viel geändert hat. Ein weiterer Grund, warum ich mit Zweifelsfrei am Start bin. Nun denn, auf beides hatte ich keine Lust. Da ich bereits 21 Jahre meines Lebens verschwendet hatte und dem eigentlich keinen einzigen weiteren Tag hinzufügen wollte, entschied ich mich, mit der Klinik in Los Angeles Kontakt aufzunehmen. So kam es also, dass ich mich im September 2015 samt Kind und Kegel für 7 Wochen in Los Angeles einquartierte. Wir lebten in einem Appartement in Venice Beach und für die Therapie fuhr ich jeweils nach Woodland Hills.

Die Therapie war hardcore-intensiv, das heisst 3 x 3 Therapiestunden pro Woche. Dabei war Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) ab der ersten Sitzung ein zentraler Therapiebaustein. Die Expositionen waren hart, aber wirksam. Die Therapie war es ebenso. Es ging Schritt für Schritt aufwärts. Meine Therapeutin und ich hatten unheimlich viel Spass. Wir haben zusammen gelacht, geweint und geschwitzt. Für mich war es zudem ein immenser Vorteil, dass sie selbst Betroffene war. Meistens wusste sie bereits im Vorfeld, worauf das hinauslaufen würde, was ich ihr gerade zu erklären versuchte. Diese lockere und dennoch hochgradig wirksame Zusammenarbeit hat mich nachhaltig geprägt. So entstand auch der Wunsch in mir, irgendwann etwas Ähnliches zu machen.

Mann steht vor Zoltar dem Wahrsager
Zoltars Prophezeiung

Exposition gegen Magic Thinking OCD: Wer kann sich noch an Zoltar aus dem Film "Big" erinnern? Mein Wunsch "auf der Stelle tot umzufallen" ging definitiv nicht in Erfüllung. ;-)

Wieder zu Hause setzte ich meine Expositionsübungen fort und genoss über einen Zeitraum von rund 3 Monaten noch eine Nachbetreuung. Das führte dazu, dass ich mich im Frühling 2016 frei fühlte, vermutlich zum ersten Mal seit meiner späten Kindheit. Ich tat, was ich wollte, und nicht mehr das, was Zwang und Angst gerade für möglich hielten. Es ging stetig aufwärts und mein Leben gehörte immer mehr wieder mir. Gleichzeitig habe ich aber auch gemerkt, dass es immer wieder Rückfälle, resp. alltägliche Lebenssituationen gab, die sich wie Kaugummi in meinem Verstand festklebten. Da wurde mir dann bewusst, dass das Problem tiefgreifender war, als bislang angenommen. Die Zwangsstörung ging weit über homosexuelle, pädophile und gewaltbehaftete Gedanken hinaus.

Heute weiss ich, dass meine Zwangsstörung chronisch ist. Es gibt immer wieder Episoden, die kurzfristig meine ganze Aufmerksamkeit absorbieren. Insbesondere dann, wenn ich unter Strom stehe oder mit Dingen konfrontiert werde, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Was früher allerdings die Regel war, ist heute tatsächlich eher die Ausnahme. Und selbst dann entscheide ich mich in >95% der Fälle dafür, direkt hindurchzugehen. Weil ich weiss, die Angst existiert nur in meinem Kopf und vermeiden es bloss schlimmer macht, immer! Zwangsgedanken tauchen auch heute noch beinahe täglich auf. Im Gegensatz zu früher, als sie mich in Angst und Schrecken zu versetzen mochten, unterhalten und amüsieren sie mich mittlerweile. Insgesamt führe ich ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben mit einer gefühlten Lebensqualität von mindestens 95%. Und ich schätze, genau darum geht es letztendlich.

Nach Los Angeles gab es noch einen einzigen Wermutstropfen, ich nahm zum damaligen Zeitpunkt nach wie vor ein Antidepressivum. Mein Anspruch war es, irgendwann wieder medikamentenfrei Leben zu können. Geprägt durch den Höllenritt im Sommer 2015 hatte ich es damit aber nicht sonderlich eilig. Lebensqualität war mir im Moment wichtiger. Also entschied ich mich, das Medikament über 2 - 3 Jahre auszuschleichen.

Abendstimmung am Strand von Venice Beach

Los Angeles bedeutete nicht nur Exposition, ziemlich oft ging es auch einfach nur darum, eine gute Zeit zu haben und Dinge zu geniessen, wie z.B. diese atemberaubende Abenstimmung.

So kam es dann, dass ich im Mai 2018, auf der kleinsten Dosis angelangt, das Medikament ganz wegliess. Ich war gut vorbereitet und ich stellte mich darauf ein, durch die Hölle zu gehen. Und ja, ich ging durch die Hölle. Schon wieder! Und dennoch zog ich es eiskalt durch. Nach 10 - 12 Wochen hatte ich es überstanden und das Fegefeuer hinter mir gelassen. Während dieser Zeit war ich wieder in Kontakt mit Los Angeles und ich durfte einen Teil der Therapie nachholen resp. nochmals machen. Warum? Weil die Wirksamkeit bislang so aufgeteilt war, dass 50% die Therapie und 50% das Medikament beisteuerten. Indem ich das Medikament rausnahm, haben plötzlich 50% gefehlt und die mussten dann nachtherapiert werden. Vom Umfang her war das aber ein Bruchteil der ursprünglichen Therapie. Viele Symptome wurden vom Absetzsyndrom ausgelöst und die nahmen im Verlaufe der Zeit wieder ab.

Seit 2018 lebe ich gänzlich frei von Medikamenten, wohlgemerkt mit einer psychischen Krankheit, die als chronisch gilt. Und ganz wichtig, es ist kein Überleben, sondern ein Leben, das ich geniessen und mit dem ich etwas Sinnvolles anfangen kann, wie meine 3 Kinder und meine 2 Herzensprojekte Zweifelsfrei und Zwangspause sehr schön zeigen.

Zitat: Schiefertafel mit Quotes

Ob du denkst, du kannst es, oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall recht behalten. (Henry Ford)

Gerne möchte ich zum Schluss nochmals betonen, dass Zwangsstörungen zu jenen psychischen Krankheiten gehören, die die besten Heilungsaussichten aufweisen. Vorausgesetzt, es kommen das richtige Wissen und die richtige Herangehensweise zur Anwendung. Letztendlich bin ich der lebende Beweis dafür, dass selbst nach einem schier endlosen Leidensweg, unzähligen Medikamenten und einer Suizidalität, nicht nur Besserung, sondern echte und nachhaltige Lebensqualität wieder möglich ist.

Und hey, das gelang mir nicht, weil ich Superman bin. Genau wie du, bin ich nämlich bloss ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich hatte aber das Glück, das ich das Kryptonit von Zwangsstörungen kennen lernen durfte. Und ich bin überzeugt davon, dass es auch deiner Zwangsstörung die Energie entziehen kann. Also, bist du bereit, Kryptonit einzusetzen?

Das war ein stark reduzierter Auszug aus 30 Jahren von meinem Leben mit einer Zwangsstörung. Zu jeder Episode gäbe es noch so viel mehr zu erzählen. Vermutlich könnte ich mit meinen Geschichten problemlos ein Buch füllen. Falls du also Fragen zu meinem Weg, zu meinen Erfahrungen oder ganz allgemein zu Zwangsstörungen hast, melde dich doch einfach bei mir.

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